Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 dienten der westlichen Welt im Allgemeinen und in den Vereinigten Staaten im Speziellen als willkommener Anlass für die Intensivierung ihrer imperialen Außenpolitik und einer zunehmend diskriminierenden und repressiven Innenpolitik gegenüber der muslimischen Gemeinschaft. Seither stellt der Islam – nach dem die Sowjetunion als letzter ideologischer Rivale zusammenbrach – das neue und zugleich altbekannte Feindbild der freien Welt dar. Das von dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush als „Kreuzzug“ betitle Vorhaben sollte aber nicht nur die Besatzung muslimischer Länder wie Afghanistan und Irak nach sich ziehen.  Gleichzeitig sollte auch die Auslegung der islamischen Quelltexte nach dem Gusto amerikanischer Werte erfolgen – mit anderen Worten: es sollte ein Islammade by Uncle Sam entstehen. So äußerte sich Bush nur wenige Tage nach den Anschlägen – am Islamic Center of Washington folgendermaßen:

„Das Gesicht des Terrors ist nicht der wahre Glaube des Islam. Das ist nicht das, was den Islam ausmacht. Der Islam ist Frieden. Diese Terroristen repräsentieren nicht den Frieden. Sie repräsentieren das Böse und den Krieg.“

Jegliche Gegenwehr gegen die amerikanische Invasion sollte auf diese Weise bereits im Vorfeld als Terrorismus delegitimiert werden. Gleichzeitig maßte sich Bush in dieser Rede an, die Deutungshoheit über den Islam für sich zu beanspruchen und den Muslimen vorzuschreiben, wie ihre Weltanschauung tatsächlich zu verstehen sei. Doch um einen westlich geprägten, säkularisierten Islam kreieren zu können, mussten auch Muslime miteinbezogen werden, um einer solch verzerrten und im Kern fremdbestimmten Auslegung zumindest den Anschein von Legitimität zu verleihen. Zahlreiche Denker, Imame und Gelehrte aus der muslimischen Community in den USA, welche einen lediglich auf Rituale und Charaktereigenschaften reduzierte Auslegung des Islam  propagieren, wurden strukturell durch die Gründung von Instituten und Fakultäten unterstützt. Eine dieser in diesem Sinne prägnantesten Personen stellt ohne Zweifel der in Amerika lebende Kleriker Hamza Yusuf Hanson dar. Neben seinem Beitrag zur Schaffung einer minimalistischen Version des Islam, welche sich lediglich auf spirituelle Handlungen und einige Verhaltenskodexe beschränkt, stimmte Hanson höchstpersönlich Präsident Bush um, den anfänglich als Operation Infinite Justice (Ewige Gerechtigkeit) betitelten Feldzug gegen die Muslime in Afghanistan in  Enduring Freedom (Ewiger Frieden) und War on Terror (Krieg gegen den Terror) umzubenennen. Gleichzeitig erteilten Gelehrte islamische Rechtsgutachten (Fatawa), die muslimischen Soldaten des amerikanischen Militärs die Teilnahme an der Invasion Afghanistans und des Irak erlaubten.

Das Potential, durch Gelehrte eine vermeintlich islamrechtliche Legitimation für eine absolut islamfeindliche Politik zu erlangen und auf diese Weise einen Teil der Muslime zu manipulieren, wurde nicht nur von der US-Regierung erkannt. Zahlreiche Regierungen in der islamischen Welt haben in jüngster Vergangenheit haarsträubende Rechtsurteile ihrer „Gelehrtenräte“ und „Muftis“  veröffentlichen lassen. Beispielsweise verkündete das „Forum zur Stärkung des Friedens in muslimischen Gesellschaften“ mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten ihre Glückwünsche zur offiziellen Normalisierung der Beziehung zwischen den Emiraten und dem Besatzungsgebilde in Palästina. Das Forum wird angeführt von dem Lehrer Hansons, Abdullah bin Bayyah und wurde im Jahre 2014 gegründet. Die prägnanteste außenpolitische Initiative der Vereinigten Emirate besteht darin, die Gegenrevolution in Staaten wie Tunesien, Libyen, Ägypten und Syrien durch die Finanzierung von despotischen Militär-Herrschern und säkularen Parteien zu stärken. Doch da die Menschen in der arabischen Welt und insbesondere im Kontext des arabischen Frühlings durch islamische Emotionen motiviert sind, wird mit der Gründung solcher Gremien bezweckt, die islamfeindliche Haltung dieser Regime zu vertuschen und ihren säkularen Bestrebungen einen islamischen Anstrich zu geben. Zudem haben die Emirate im Jahr 2017 einen Fatwa-Rat gegründet, welcher ebenfalls von Bin Bayyah angeführt wird und welchem Hanson als ständiges Mitglied zur Seite steht. Im November des letzten Jahres veröffentlichte der Rat eine Fatwa, in der eine der weltweit größten und gewaltfrei agierenden islamischen Organisation – die Muslimbruderschaft –als Terrororganisation gebrandmarkt wurde. Eine ähnliche Fatwa wurde vom Rat der Großgelehrten aus Saudi-Arabien veröffentlicht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was sind die Motive dieser Regime und allen voran der Vereinigten Staaten von Amerika in den innerislamischen Diskurs einzudringen und solche Positionen zu forcieren? Und wie gelingt ihnen dies?

Nach den Ereignissen des 11. Septembers entwickelten die unterschiedlichen politischen Strömungen in den USA verschiedene Ansätze im Umgang mit dem Islam. Während das rechte Spektrum rund um die Neokonservativen eher einen konfrontativen Kurs befürworten, bevorzugten linksliberale Denker und Politiker eine Strategie der sukzessiven Säkularisierung der Muslime durch Inklusion und Vereinnahmung.  Diese beiden Ansätze müssen jedoch als Komplementäre und nicht als absolute Gegensätze betrachtet werden. Denn sie beide gehen von der Prämisse aus, dass der Islam eine weltanschaulich-politische Herausforderung darstellt, die unter allen Umständen neutralisiert werden müsse. Beide Strategien arbeiten also mit denselben Prämissen, lediglich in der Ausführung und der Wahl der Mittel unterscheiden sie sich. Gleichzeitig haben sich beide Ansätze auch im Forschungsbereich der Islamwissenschaften niedergeschlagen. Als Konsequenz sollten wir Muslime somit in unserem Islamverständnis erheblich beeinflusst werden. So besteht einerseits ein konfrontativer Kurs in der Islamwissenschaft, der mittels psychologischer Kriegsführung, die Muslime durch eine aggressive Fundamental-Kritik an den Primär-Quellen des Islams in ihrem weltanschaulichen Selbstbewusstsein zu verunsichern versucht. So werden in den Quelltexten beschriebene Konzepte und Praktiken als barbarisch, unauthentisch und überholt verunglimpft. Der linksliberale Ansatz besteht dagegen darin, den Islam nach säkularem Muster umzudeuten, sodass er in das weltanschauliche Korsett des Liberalismus passt. Hierfür haben sie große Teile der Gesetzgebung des Islam, wie zum Beispiel geschlechterspezifische Regelungen und politische Aspekte wie das Strafgesetz über Bord geworfen und viele weitere Bestandteile umgedeutet. Auf diese Weise wurde die islamische Identität auf einige Äußerlichkeiten wie beispielsweise das Kopftuch reduziert, welches darüber hinaus als Ausdruck individualistischer Selbstbestimmtheit oder als emanzipatorischer Akt zweckentfremdet wurde.

Amerikanische Think Tanks, die parteiübergreifend einen starken Einfluss ausüben, stachen bei dem Versuch der zersetzenden Umgestaltung islamischer Überzeugungen besonders hervor. Allen voran ist hierbei die RAND Corporation zu nennen, welche nach dem zweiten Weltkrieg gegründet wurde und während des Kalten Krieges eine maßgebende Rolle in der strategischen Ausgestaltung US-amerikanischer Propaganda spielte. In einem Bericht des Think Tanks aus dem Jahre 2003, welcher den Namen: „Civil democratic Islam_ partners, resources, and strategies“ trägt, wurden die Muslime in drei große Lager unterteilt: die Modernisten, die Traditionalisten und die Fundamentalisten.  Selbstverständlich wurden die Modernisten dabei als ideale Partner für den Westen identifiziert, so heißt es auf Seite 38:

„Ideologisch gesehen sind die Modernisten das verlässlichste Vehikel für die Entwicklung und Verbreitung eines demokratischen Islam, doch in der jetzigen Realität operieren sie unter einer Reihe von Handicaps, welche ihre Effektivität signifikant reduzieren.“

Weiterhin wurde im Bericht behauptet, dass die säkularen Modernisten zwar die Mehrheit der Muslime im Westen repräsentieren würden, aber durch die Lautstärke der traditionalistischen und fundamentalistischen Kräfte übertönt würden. Der Grund hierfür sei, dass letztere über charismatische Prediger, Finanzierung aus dem Ausland und viele Moscheen und Organisationen verfügen würden. Die Traditionalisten wurden wiederum als jene bezeichnet, die nicht gewillt seien, den Islam an westliche Werte anzupassen; gleichzeitig seien sie jedoch äußerst passiv, da sie sich gesellschaftlich und politisch nicht einbringen würden. Als Einteilungskriterien für die Kategorie „Traditionalisten“ wurde das Festhalten an Werten und Geboten wie die Trennung von Mann und Frau im Gebet, der Hijab und das Tragen eines Bartes genannt. Als Fundamentalisten wurden hingegen jene Muslime eingestuft, die dem Islam eine  gesellschaftspolitisch prägende Rolle zusprechen würden. Nachdem diese drei Gruppen definiert und beschrieben wurden, wurden sie auf Seite 46 wie folgt ins Verhältnis gesetzt:

„Der Traditionalismus, der eine zurückhaltende, moderate Ideologie ist, die mit dem verbunden ist, wofür die eigenen Eltern und Großeltern stehen, ist gegenüber dem Fundamentalismus im Nachteil, wenn es darum geht, die Jugend zu begeistern. Der Modernismus hingegen, der mutiger und unkonventioneller ist, könnte ein Konkurrent sein. Er hat auch den Vorteil, dass er im objektiv besseren Interesse der Jugendlichen und Frauen liegt.“

Die strategisch wichtigste Aussage des Berichts, welche den Umgang vieler westlicher und nahöstlicher Staaten mit dem Islam nachhaltig beeinflussen sollte, ist die folgende:

„Die Sufis passen in keine der Kategorien, aber wir werden sie hier in den Modernismus einordnen. Der Sufismus repräsentiert eine offene, intellektuelle Interpretation des Islam. Der Einfluss der Sufis auf die Lehrpläne, Normen und das kulturelle Leben sollte in Ländern mit einer Sufi-Tradition, wie Afghanistan oder Irak, stark gefördert werden. Durch seine Poesie, Musik und Philosophie hat der Sufismus eine starke Brückenfunktion außerhalb der Religionszugehörigkeit.“

Das Strategiepapier wurde im Jahr 2007 durch einen weiteren Bericht mit dem Namen: „Building Moderate Muslim Networks“ ergänzt. Darin heißt es, dass heute wie damals eine Schlacht der Waffen und Ideen herrsche. Die Muslime Amerikas wurden als die beste Ressource des Westens ausgemacht, um durch Netzwerkarbeit weltweit liberale Werte unter Muslimen zu verbreiten. In diesem Bericht wurden die potentiellen Partner westlicher Staaten nun unter der Kategorie der „Moderaten“ subsumiert. Somit wurden die Bezeichnungen im Bericht des Jahres 2003, in welchem von Modernisten, Traditionalisten und Sufis die Rede war, nun als Gegenstück zu den sogenannten Fundamentalisten gebündelt. Der Bericht empfahl vorhandene einflussreiche Netzwerke dieser Gruppen zu nutzen und nicht etwa neue zu schaffen. Bei den Handlungsempfehlungen auf Seite 21 heißt es:

„Ein sich ständig weiterentwickelnder und schärfer werdender Satz von Kriterien, der die echten Moderaten von Opportunisten und von Extremisten, die sich als Gemäßigte tarnen, und liberale Säkularisten von autoritären Säkularisten unterscheidet ist von nöten Die U.S.-Regierung muss die Fähigkeit haben situative Entscheidungen zu treffen, um wissentlich und aus taktischen Gründen Personen außerhalb dieses Spektrums unter bestimmten Umständen zu unterstützen.“

Zu der Kooperation mit den Sufis wird auf Seite 73 gesagt:

„Aufgrund der Diskriminierung der Sufisten durch Salafisten und Wahhabiten sind Traditionalisten und Sufis natürliche Verbündete des Westens in dem Maße, in dem eine gemeinsame Basis existiert.“

Die darauffolgenden Jahre haben bewiesen, dass sich viele dieser Gruppen und Akteure bewusst oder unbewusst als verlässlicher Partner für den Westen und seine Proxi-Regierungen in der islamischen Welt bewährt haben. Hanson und Bin Bayyah sind hierbei nur die Spitze des Eisbergs. Figuren wie der Großmufti Ägyptens Ali Cuma oder Ahmad al-Tayyib, der Scheich der Azhar Universität, sind aufgrund ihres Verhältnisses zur Militärdiktatur Abdul Fatah Sisis als weitere Beispiele zu nennen. Der Bericht ging sogar so weit, eine beschränkte Kooperation und einen Dialog mit den sogenannten Islamisten anzuregen, um Repräsentanten des politischen Islam selbst zu beeinflussen. Im gleichen Atemzug wurde jedoch gewarnt, dass man den sogenannten Islamisten nicht wirklich trauen könne und auch etwaige Lippenbekenntnisse zur Demokratie kritisch zu prüfen seien.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass es darum geht, den Islam durch eine vielschichtige Strategie zu verwestlichen. Diese Vielschichtigkeit kann man sich als eine Art Arbeitsteilung vorstellen, wie man sie bespielweise aus der Küche kennt. Der Metzger entfernt rigoros mit dem Messer das Fleisch von den Knochen sowie dem Fett und der Koch fügt mit sehr viel Sorgfalt und Leidenschaft die Gewürze hinzu. Der Unterschied hierbei ist nur, dass viele der sogenannten moderaten muslimischen Akteure sich nicht einmal bewusst sind, dass sie sich in Teufelsküche begeben haben und für politische Zwecke missbraucht werden.

Ein weiterer wichtiger Protagonist in diesem Drehbuch der US-amerikanischen Bekämpfung und Vereinnahmung des Islam war der ehemalige US-Präsident Barack Hussein Obama. Seine Rolle war die des Wolfs im Schafspelz. Durch seinen Namen, seine Abstammung und seine liberale Agenda war er für den Kampf gegen den Islam geradezu prädestiniert. Zu seiner Symbolpolitik gegenüber den Muslimen gehörten die jährlich öffentlichkeitswirksam durchgeführten Iftar-Events, bei denen der Azan gerufen wurde und Obama sogar Hadithe zitierte. Doch wenn man sich die Gästeliste etwas genauer anschaut, waren genau jene Personen-Gruppen eingeladen, die in den Handlungsempfehlungen des RAND-Instituts Erwähnung finden. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass Obama am 04.06.2009 seine Rede in der al Azhar Universität in Kairo mit dem Titel: „Ein neuer Anfang“ hielt. In dieser Rede schmierte er den Muslimen buchstäblich Honig ums Maul, in dem er sich des islamischen Friedensgrußes und Koran-Zitaten bediente. Entscheidend war jedoch seine politische Botschaft, die da lautete:

„Je früher die Extremisten isoliert und in muslimischen Gemeinschaften nicht mehr willkommen sind, desto früher werden wir alle sicherer sein.“

Doch es bleibt die Frage zu klären, welche Islamwissenschaftler im vorpolitischen Raum, also auf der theologischen Meta-Ebene den Weg für diese progressivistische Entwicklung des Islam-Diskurses in den Staaten ebneten. Auf epistemologischer Ebene sind dabei zwei Säulen zu erkennen. Die erste Säule ist die Behauptung, dass der Islam über keine kommunikative Präzision verfüge und daher keine klaren Inhalte transportieren könne; dies wird dann als Ambiguität bezeichnet. Auf praktischer Ebene bedeutet das nichts anderes, als dass jeder, der meint, über genügend Autorität und Deutungsfähigkeit zu verfügen, sich sein eigenes Islam-Süppchen kochen kann. Hieraus resultiert auch die zersetzende Floskel von unqualifizierten Politikern und Medienleuten:

Es gibt nicht den einen Islam.“

Die zweite hiermit im Zusammenhang stehende Säule ist die Hypothese, dass viele normative Aspekte des Islam nur einen diskursiven Wahrheitsgehalt hätten und keinen substantiellen. Mit anderen Worten müssten zahlreiche islamische Rechtssprüche, wie etwa das Zinsverbot oder die Pflicht des Hijab, gemäß ihren historischen Zusammenhängen bewertet und im Kontext der Moderne noch einmal durch zeitgenössische Gelehrte neu ausdiskutiert werden. Der amerikanische Prediger Khaled Abou al-Fadl behauptet beispielsweise, dass die Pflicht des Hijab nur unter dem Aspekt der Erfüllung von Keuschheit und Diskretion bestünde. Da heute aber diese Werte kulturell anders aufgefasst würden, reiche es aus, wenn eine Frau keine sonderlich reizende Kleidung trage. Die Frage nach der Autorität dieser Gelehrten hat dazu geführt, dass es zu einem sinnfreien Wettstreit von Qualifikationen gekommen ist, anstatt objektiv die Auslegbarkeit der entsprechenden Meinung im Lichte der Offenbarungstexte zu bewerten.

Zu guter Letzt sei gesagt: Es kommt nicht darauf an wie groß der Turban eines Sheikhs ist oder wie schön sein Mund von einem dichten Bart geschmückt wird. Entscheidend ist vielmehr, welche Überzeugungen sich unter dem Turban verbergen und welche Wahrheiten seinen Mund verlassen