– Einleitung –

Vor mehr als 500 Jahren, am 31. Oktober 1517, nagelte ein Mönch namens Martin Luther 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg, die die christliche Kirche erschüttern und im späteren Verlauf die Welt verändern sollten. Der Rest der Geschichte ist bekannt und wird auch heute noch lieber ein Mal zu viel als ein Mal zu wenig erzählt. Luther setzte sich gegen die Vorwürfe der Ketzerei durch und leitete die Reformation der christlichen Kirche ein, was als Anfang des Aufstiegs der westlichen Gesellschaft in die Moderne gilt. Etwas mehr als 500 Jahre ist dieses Ereignis nun her und auch heutzutage sieht man zunehmend führende Politiker, wie auch Journalisten und einzelne eher unbekannte Individuen, die eine solche Reform nicht nur gutheißen, sondern sie auch als maßgebend, nicht nur für die Entwicklung des Christentums, sehen.

 – Rufe nach islamischer Reformation –

So kommt es nicht von ungefähr, dass die Rufe nach einer islamischen Reformation lauter werden. Dabei wird derzeit oftmals eine Unvereinbarkeit von islamischen Grundpfeilern, wie etwa dem öffentlichen Gebet oder dem Tragen des Kopftuchs, mit der modernen westlichen Gesellschaft und ihren Werten diskutiert. Die Akteure dieses öffentlichen Diskurses – Politiker, Journalisten und selbsternannte „Islamexperten“ – werfen dem Islam vor, er sei eine Religion aus dem siebten Jahrhundert, dessen Werte nicht zu den offenen, liberalen und säkularen Werten der westlichen Welt passen würden. Die Rufe nach einer Reformation des Islam, wie sie das Christentum auch hinter sich hat, werden demnach immer lauter und immer wieder wird ein „muslimischer Luther“ gefordert, der den Islam an die Moderne anpasst und ihm dabei hilft, dem Säkularisierungsprozess, den das Christentum vor mehr als 500 Jahren vollzog, nachzuahmen

– Gleiche Realität – verschiedene Ursachen –

Dabei hinkt der Vergleich eben jener Akteure auf vielen verschiedenen Ebenen. Auch wenn es augenscheinlich Parallelen zwischen beiden Realitäten gibt, so können die Ursachen für die beiden Situationen unterschiedlicher nicht sein.

– politische Situation unter Luther –

Die politische Lage des Westens zu Lebzeiten Luthers zeigt auf, wie die Religion und eine göttliche Instanz von der Kirche dazu benutzt wurden, um eigene Machtansprüche zu untermauern und diese auch durchzusetzen. Man sah die Macht der Kirche als gottgegeben und somit als nicht diskutabel an. Die Kirche stellte den Vertreter Gottes auf Erden dar. So kam es auch dazu, dass jede einzelne Person, die diese Macht hinterfragte – wie eben auch Luther – als Ketzer an den Pranger gestellt wurde. Begründet wurde diese Ungerechtigkeit durch die Monopolstellung der Kirche bei der Deutung der Bibel, aufgrund des bewusst beschränkten Zugangs zum Erlernen der lateinischen Sprache für den Klerus. Dies führte unter anderem dazu, dass Aussagen aus der Bibel erfunden wurden und Priester für die Entscheidung der Kirche bürgen mussten, wie etwa bei der Einführung einer erhöhten Steuer für die Bauern. Erst mit der ersten deutschen Übersetzung der Bibel durch Luther unterlagen die Aussagen der Kirche einer Prüfung durch das Volk, welche sie nicht standhielten. Dass diese Ungerechtigkeit nicht ewig währen konnte, war nur folgerichtig. Letztendlich führte das vermehrte Wissen des Volkes und die (berechtigte) Wut auf die Kirche zu den Bauernkriegen und der Reformation des Christentums durch die Kirche.

Die Situation in der islamischen Welt mag ähnlich aussehen. Auch hier gibt es „Gelehrte“, die die islamischen Texte umdeuten, damit sie in die politische Agenda der muslimischen und nichtmuslimischen Führer passen. Jedoch sollte man nicht vergessen, dass dies nicht immer so war. Während der Westen unter der Herrschaft der Kirche gelebt hat, bauten sich in vielen Bereichen der islamischen Welt Bildungszentren auf. Eines dieser Bildungszentren war Bagdad, wo etwa mit der Begründung der Algebra durch Al-Khwarizmi der Grundstein für den heutigen technologischen Forstschritt gelegt wurde. Im Jahr 859, mehr als 650 Jahre vor der Reformation durch Luther und mehr als 1.000 Jahre vor der ersten Immatrikulation einer Frau in einer deutschen Universität, wurde die erste Universität der Welt, die Universität al-Qarawiyin in Marokko gegründet. Gründerin dieser Universität war Fatima al-Fihri. Die islamische Welt war zu der Zeit der christlichen Reformation in ihrer Blütezeit und nicht zu vergleichen mit ihrer heutigen Situation. Erst mit der Entfernung vom Islam und dem damit einhergehenden Verlust des Wissens über die arabische Sprache und die islamische Rechtsprechung hat der Islam einen geistigen Abstieg erlebt, welcher als Grund für die derzeitige Situation angesehen werden kann.

– gesellschaftliche Situation unter Luther –

Nicht nur politisch teilte sich das heilige Römische Reich Deutscher Nation in verschiedene Fürstentümer. Auch innerhalb der Gesellschaft gab es eine von der Kirche gepredigte (gottgegebene) Hierarchie, die das Volk in drei Stände teilte und dem jeweils höheren Stand eine Macht gegenüber dem Niedrigeren verlieh, die nicht angezweifelt werden durfte. Dies hatte zur Folge, dass die Bauern, welche den Großteil der Bevölkerung, ausmachten , für das Wohl des Klerus und des Adels schuften mussten. Der Islam predigt die Gleichheit aller Muslime vor ihrem Herrn. Der Prophet (sas) hörte sich die Probleme des einfachen Volkes an und versuchte auch, diese zu lösen. Ebenso verhielt es sich mit den rechtgeleiteten Kalifen und den späteren Gelehrten der islamischen Umma. Auch sie sahen sich nicht als eine elitäre Einheit, die ihre Exklusivität wahren muss und nur unter sich bleibt. Stattdessen wird in der islamischen Geschichte und in den islamischen Quellen deutlich, dass die Muslime in ihrer Gesamtheit eine Einheit bilden sollen und der Gedanke von verschiedenen Ständen überhaupt nicht existent ist. So sagt Allah (t) im Quran: „Und wenn zwei Gruppen von den Gläubigen miteinander kämpfen, so stiftet Frieden zwischen ihnen. […] Die Gläubigen sind doch Brüder. So stiftet Frieden zwischen euren beiden Brüdern und fürchtet Allah, auf daß ihr Erbarmen finden möget.“ [49:9-10]

– religiöse Situation unter Luther –

Die Kirche ging ihrer eigentlichen Aufgabe, der Vereinigung des Volkes und der Verbreitung der Botschaft Jesu und der Nächstenliebe, nicht nach. Stattdessen verleitete die hohe Macht, die der Kaiser ihr gab, die Kirche zum Missbrauch eben jener. Der Verkauf von Ablassbriefen zur Finanzierung des Petersdoms etwa steht bis heute sinnbildlich für den damaligen Machtmissbrauch der Kirche. Das Resultat dieses Missbrauchs war die Spaltung der Kirche, der Verlust der Macht und vor allem der Verlust des Vertrauens des Volkes, nicht nur in die Kirche und in das Christentum, sondern auch in die Religion und in eine göttliche Instanz per se.

Auch heutzutage gibt es in der islamischen Welt „Gelehrte“, welche von der Macht ihrer Führer profitieren. Auch sie gehen ihrer eigentlichen Aufgabe, der Verbreitung der islamischen Botschaft und der Lösung der Probleme der Muslime, nicht nach. Stattdessen verleitet die hohe Macht, die sie von den islamischen Führern bekommen, sie dazu, eben jene zu missbrauchen, indem sie Fatwas herausbringen, die der politischen Agenda ihrer Führer nützen und dem Islam letztendlich schaden.

– Fazit –

Die Analyse der Realität des Christentums zur Zeit der Reformation und der Muslime heutzutage zeigt auf, dass viele Probleme ähnlich sind. Jedoch zeigt sich bei einer genaueren Beobachtung, dass sich die Ursachen der Probleme stark unterscheiden. Während die christliche Gesellschaft vor 500 Jahren unter der geistlichen Herrschaft der Kirche gelitten hat und die Reformation dementsprechend nur folgerichtig war, lässt sich die derzeitige Situation der Muslime darin begründen, dass sie sich immer mehr vom Islam und seinen Lehren distanziert haben. Die Vergangenheit der Muslime zeigt nämlich eindeutig das hohe Potential einer Gesellschaft auf, wenn sie mit dem Islam verbunden wird.