In der heutigen Zeit, in der die islamische Welt von Rückständigkeit, Dekadenz und Postkolonialismus befallen ist, wird dieser Zustand von vielen Leuten mit der Natur des Islam assoziiert. Dabei wird darauf verwiesen, dass doch die meisten dort lebenden Menschen Muslime seien und man doch sicher einen Zusammenhang zwischen dem Zustand dieser Gebiete und den Überzeugungen, die die Menschen in diesen Gebieten tragen, zu finden ist. Dabei wird einerseits außer Acht gelassen, dass es politische Verhältnisse sind, die diese Länder in solch einen Zustand gebracht haben und dass gerade die Überzeugung des Islam in der Geschichte schon häufiger als Antrieb diente, um sich aus Dekadenz und Rückständigkeit zu befreien. Auf der anderen Seite, ist dies nicht mehr als eine oberflächliche Betrachtungsweise des Islam, die schnell eine selbstgefällige Antwort bieten soll, um sich auch selbst von Schuld reinzuwaschen. Denn wenn die Ursache im Islam zu finden ist und nicht in der Außenpolitik westlich-liberaler Staaten, dann kann man es sich schön gemütlich machen, im eigenen selbst zusammengebauten Weltbild und muss sich nicht mit unangenehmen Fragen beschäftigen.
Auch kann man auf die Idee eines Widerspruches deshalb kommen, da der Islam häufig zu Handlungen aufruft, die man nicht vollständig mit dem Verstand durchdringen kann. So ist durch den Verstand allein nicht einsehbar, warum man zu genau den Zeiten beten muss, zu denen es der Islam vorgeschrieben hat oder warum man gerade zu der Zeit, zu der es der Islam vorgeschrieben hat, fasten muss etc. Leider können diese Fehlschlüsse auch eine Auswirkung auf die Überzeugungen bezüglich des Islam bei Muslimen haben, die sich noch nicht in tiefgründiger Weise mit den Ideen und Konzeptionen des Islam auseinandergesetzt haben. Die Frage bleibt also: Steht der Islam im Widerspruch zum Verstand?
Die kurze Antwort ist: Nein, vielmehr schränkt der Islam den Verstand genau aus den Bereichen aus, in denen man auf keine definitiven oder progressiven Ergebnisse durch den Verstand hoffen kann. Aber diese Antwort scheint noch nicht befriedigend genug, was ist denn die Rolle des Verstandes im Islam genau?
Zunächst die Bereiche, in denen der Islam die Rolle des Verstandes ablehnt. Dies sind vor allem zwei. Zum einen fordert der Islam die Gläubigen auf, an das zu glauben, was unseren Verstand schon per Definition übersteigt, was aber durch den Islam überliefert worden ist. Dazu gehören im Allgemeinen die Eigenschaften Allahs, die Existenz und Eigenschaften der Engel, der Jinn, die Existenz von Paradies und Hölle, die Tatsache, dass alle Menschen über ihre Taten, die sie im diesseitigen Leben begangen haben, Rechenschaft ablegen müssen etc. Diese Dinge übersteigen den Verstand des Menschen, da ihre Wahrheit nicht direkt durch den Verstand belegt, aber auch nicht widerlegt werden kann, da die Aussagen darüber, keine Aussagen sind, die in unserer Welt überprüft werden können. Sie sind wahr, wenn der Islam wahr ist. Dabei verbietet es der Islam gleichzeitig, über diese Dinge Aussagen zu treffen, wenn sie nicht auf der Grundlage des Islam getroffen werden. Dieses Verbot macht aber sofort Sinn, denn dadurch, dass sie nicht in irgendeiner Art und Weise wahrnehmbar sind, sind alle Aussagen, die der Mensch über sie tätigt, bloße Vermutungen. Ein Beispiel finden wir in der Geschichte des Propheten (saw) selbst. Als sein Sohn Ibrahim gestorben ist und am selben Tag eine Sonnenfinsternis stattgefunden hat, haben die Leute vermutet, dass es einen Zusammenhang zwischen der Sonnenfinsternis und dem Ableben seines Sohnes geben könnte. Er wies sie allerdings daraufhin, dass die Sonne und der Mond Zeichen von Allah sind, die sich nicht wegen dem Tod eines Menschen auf eine gewisse Weise verhalten. Dieses Beispiel zeigt, wie die Menschen eine Art mythischen Zusammenhang zwischen offensichtlich getrennten Ereignissen erkennen wollten, der Islam, in diesem Fall der Prophet (saw) dies aber sofort zurückwies.
Andererseits lehnt der Islam den Verstand im Bereich der Bewertungen von Handlungen aus moralischen Gesichtspunkten ab. Der Verstand allein, ohne Zuhilfenahme von Offenbarungstexten, kann nicht entscheiden, ob eine Handlung moralisch richtig oder moralisch verwerflich ist. Warum dies so ist, ist ein Thema für sich, kurz gesagt kann man aber sagen, dass der Verstand eine reine Beschreibungsinstanz ist, aber den moralischen Wert einer Handlung nicht einsehen kann. Diese Tatsache hat nicht nur bei den islamischen Denkern Anklang gefunden, sondern auch im Westen. Namhafte westliche Denker haben diese Position vertreten, da sie aber anders als die Muslime nicht auf Offenbarungstexte zurückgreifen konnten, haben sie sich damit zufrieden gegeben, zu sagen, dass einfach mit diesem Problem so umgegangen werden müsse, als wenn eine Handlung dadurch gut oder schlecht wird, je nachdem, ob sie Nutzen oder Schaden für die Allgemeinheit mit sich bringt. Die Muslime haben hingegen richtigerweise diese Entscheidung demjenigen überlassen, der darüber auch wirklich urteilen kann, nämlich dem Schöpfer der Menschen. Geht man diese Aussagen über den Verstand mit, sieht man ebenfalls deutlich ein, dass eine Beschränkung des Verstandes in diesem Bereich Sinn ergibt. Dazu gehört aber auch, dass man mit dem Verstand nicht darüber entscheiden kann, was Allahs (swt) Urteil über eine Handlung ist, ohne dass man sich nicht auf die Quelltexte des Islam stützt. Eine Praxis, die heutzutage unter einige „liberalen“ Muslimen sehr gern gesehen ist.
Bleiben wir zunächst bei den rechtlichen Aspekten.
Die Rolle des Verstandes stützt sich hier vor allem auf drei Aspekte:
* Die Realität des Gegenstandes und der Handlungen, über die ein rechtliches Urteil gefällt werden soll, muss mit dem Verstand so gut es geht, durchdringt werden . Ohne, dass man sich genau anschaut, was beurteilt werden soll, kann ein Gelehrter nicht beurteilen, welche Art von Rechtsspruch auf eine Handlung anfällt. Der Verstand spielt also in der Analyse der Rechtsgegenstände eine unabdingbare Rolle.
*Der Verstand spielt ebenfalls eine Rolle bei der Analyse der Offenbarungstexte. Zwar ist klar, dass nur Allah (swt) das Recht hat, über eine bestimmte Handlung zu urteilen, aber da nicht alle Ayat eindeutig sind in ihrer Bedeutung, muss ein Rechtsgelehrter beurteilen, wie bestimmte Aussagen zu deuten sind. Das gleiche gilt bei den Ahadith.
*Es stellt sich die Frage, welche Aussagen man zur Lösung eines gegebenen rechtlichen Problems heranziehen kann und welche nicht. Aus dieser Tatsache sind ganze Wissenschaftszweige unter den Muslimen entstanden. Dazu gehört z.B. das Wissen über Idschtihad und Taqlid, über die wir bereits eine Videoreihe gemacht haben. Wir sehen also, dass auch hier der Verstand eine bedeutende Rolle spielt. Ein Beispiel für einen vorbildlichen Umgang in diesem Bereich haben wir auch von den Sahabah. So hat der Prophet (saw) während der Schlacht von Badr an einem bestimmten Platz mit seinen Gefährten geruht. Habab bin al-Munthir fragte ihn daraufhin, ob die Entscheidung für diesen Rastplatz Offenbarung oder seine eigene Strategie wären. Als der Prophet (saw) meinte, dass diese Entscheidung keine Offenbarung sei, hat Habab ihm daraufhin einige Ratschläge erteilt. Dies bedeutet, er hat genau die Stellung seines Verstandes und die Stellung der Offenbarung gekannt und konnte dadurch sehr genau, die Richtigkeit seiner Überlegungen abschätzen.
Der nächste Bereich, indem der Verstand eine definitive Rolle im Islam besitzt, ist der Bereich der Aqidah, also der Grundüberzeugung der Menschen. Der Islam hat die Nachahmung in der Aqidah verboten, dies bedeutet als Konsequenz, dass selbst ein Muslim, der Muslim ist, aber keine rationalen Argumente seiner Überzeugung zugrunde legt, sündhaft ist. Man kann sogar soweit gehen und sagen, dass eigentlich eine Quintessenz des Islam ist, dass man niemanden in seiner Überzeugung blind folgen soll. Denn dies ist eine der Haupteigenschaften der Völker gewesen, über die der Qur’an uns berichtet, wenn er uns Beispiele von Völkern nahelegt, die in die Ungnade Allahs (swt) gefallen sind. Zwar ist nicht jeder Bereich der Aqidah mit dem Verstand überprüfbar, aber die Grundlagen sind es. Dazu gehören beim Islam, die Existenz Gottes und die Eigenschaft des Qur’an, dass dieser ein Wunder ist und somit nur von Allah (swt) stammen kann. Diese Tatschen müssen mit dem Verstand erfasst und untermauert werden.
Ein weiterer, aber eigentlich selbstverständlicher Bereich, ist die Untersuchung der Natur. Der Qur’an ist kein wissenschaftliches Werk, sondern fordert die Menschen gerade an den Stellen auf, ihren Verstand auszuschöpfen, wenn es darum geht, die Natur zu begreifen und darüber nachzudenken. Also eine Tatsache, die der eingangs erwähnten Dekadenz eindeutig widerspricht.
Als Fazit können wir festhalten, dass das Leben nach islamischen Vorstellungen kein Widerspruch zum Verstand darstellt. Im Gegenteil: Der Islam fordert wie kaum eine Religion das Nachdenken ein. Gleichzeitig schränkt der Islam die Benutzung aber auf die Bereiche ein, in denen es Sinn ergibt den Verstand zu benutzen, auch in Abgrenzung zu modernen säkularen Anschauungen, in denen man davon ausgeht, dass der Verstand, in Mangel von richtigen Offenbarungstexten, viel mehr zu leisten vermag, als es tatsächlich der Fall ist.
Grundsätzlich müssen wir als Muslime eine ähnliche Sensibilität erreichen, wie es Habab im obigen Beispiel getan hat. Dann werden auch endlich Erklärungen verschwinden wie: „Wir fasten, weil das gesund für den Körper ist“ oder „Wir beten zu bestimmten Zeiten, damit wir einen geregelten Tagesablauf haben“.