Liebe Geschwister im Islam, wir alle leben in politisch sehr turbulenten Zeiten. Die Vernetzung der Welt hat einen noch nie dagewesenen Grad erreicht. Ein Ereignis an einem Ort der Erde kann fast sofortige Auswirkungen an einem ganz anderen Teil der Erde haben. Zur gleichen Zeit sorgt diese Vernetzung aber auch für eine Flut an Informationen. Wenn wir uns nun die Welt betrachten, dann kann all dies dazu führen, dass wir uns ohnmächtig fühlen bezüglich dieser scheinbar übergroßen Mechanismen. Wir fühlen uns vielleicht wie ein kleiner Fisch im großen Meer, außerstande die Welt zum Positiven zu wenden. Doch dies ist ein fataler Trugschluss, der dazu führt, dass wir unsere Möglichkeiten drastisch unterschätzen.
Ein gutes Beispiel, das viele von euch auch kennen werden, ist, dass in muslimischen Haushalten leidenschaftlich Nachrichten verfolgt, die Themen aber aus einer passiven Haltung heraus bewertet werden. Es fallen kaum Sätze wie: „Auf dieses Ereignis müssen wir so reagieren…“ oder „Jetzt ist dies zu tun…“. Im Gegenteil, wenn man seine Angehörigen darauf aufmerksam macht, dass man etwas tun muss, fallen eher Sätze wie: „Was sollen wir machen, das ist Schicksal“ oder „Wir können da sowieso nichts tun, da sind uns die Hände gebunden“.
Leider ist dieses Verhalten auch bei uns Muslimen hier in Deutschland zu beobachten. Wir wissen, dass Allah über jede Angelegenheit entscheidet, doch ist dies bei vielen eine abstrakte Theorie und wir wenden diese Konzeption nicht so auf unseren Alltag an. Das Gleichnis von solch einer Einstellung ist die eines Fußballfans, der mit einer Chips-Tüte in der Hand das WM-Finale verfolgt. Er ist im Regelfall ein sehr guter Beobachter, maximal ein sehr guter Kommentator, aber das war es dann auch, einen Einfluss auf das Geschehen übt er nicht aus. Diese Einstellung auf die politischen Ereignisse zu übertragen, ist allerdings nicht mehr als eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit, Minderwertigkeitsgefühlen, Feigheit und Belanglosigkeit gegenüber den Angelegenheiten der Muslime.
Diese Einstellung geht sogar so weit, dass es einige Muslime gibt, die in ihrer Hoffnungslosigkeit so tief versunken sind, dass sie nicht davon berührt werden, wenn es Diskussionen darüber gibt, das Kopftuch oder das Gebet in Schule und Universität einschränken zu wollen. Sie haben diese Einstellung nicht etwa, weil sie den Islam nicht lieben würden. Nein! Vielmehr lieben sie den Islam und die Gläubigen. Sie sind deshalb nicht davon berührt, weil sie sich nicht vorstellen können, dass man irgendetwas an der Situation ändern kann. Sie sehen sich selbst als stillen Beobachter des Geschehens. Doch haben sie dabei die muslimische Community wirklich unterschätzt und vergessen, dass Allah ein ständiger Beobachter ist.
Liebe Geschwister im Islam, wir können uns keine Passivität erlauben! Ich möchte euch daran erinnern, dass jeder Einzelne von uns eine Verantwortung gegenüber der islamischen Umma hat und dass wir als Umma gegenüber jedem Einzelnen eine Verantwortung haben.
Betrachten wir uns einmal eine funktionierende Gesellschaft, dann werden wir sehen, dass so gut wie jedes Individuum in irgendeiner Weise eine wichtige Funktion hat. Nehmen wir als Beispiel Institutionen wie die Müllabfuhr. Sie erscheint uns als etwas Selbstverständliches und sicher gibt es auch viele, die diese Arbeit gar nicht schätzen oder mitbekommen, was dort tagtäglich passiert. Aber stellen wir uns nur einmal vor, sie würde für eine Woche nicht ihrer Arbeit nachgehen. Das würde zu enormen Problemen führen und das gesellschaftliche Leben würde nicht mehr so rundlaufen, wie es könnte. Der Prophet Muhammad (s.) hat dies sinnbildlich mit einem Gleichnis dargestellt, indem er sagte: „Wahrlich jeder von euch ist ein Hirte und jeder von euch ist verantwortlich für seine Herde.“ Dies ist ein Teil einer längeren Überlieferung, in der der Gesandte Allah (s.) von dem höchsten Glied einer Gesellschaft spricht, dem Imam, also dem Führer einer Gesellschaft und seinem Verantwortungsbereich ihr gegenüber, bis hin zum kleinsten Glied einer Gesellschaft und seinem Verantwortungsbereich. Jeder trägt seine persönliche Verantwortung in diesem Gesamtbild.
Dies ist wichtig zu verstehen, denn genauso wie eine Gesellschaft bestimmte Interessen hat, die nur gewahrt werden können, wenn sich jedes Individuum seiner Verantwortung bewusst ist, so haben auch wir als muslimische Community spezifische Interessen, die mit unseren Überzeugungen zusammenhängen. Auch diesen Interessen kann nur nachgegangen werden, wenn sich die Mitglieder dieser Community ihrer jeweiligen Verantwortung bewusst sind. So muss jeder, ob Schüler oder Student, Arzt oder Ingenieur, Reinigungskraft, Krankenschwester, Handwerker, Restaurantbesitzer, Youtuber oder Azubi, sich seinen Möglichkeiten bewusst sein und sich für den Islam positionieren.
Gerade in diesen Zeiten hat dies enorme Wichtigkeit, denn wir sehen zunehmend, dass es viele Bestrebungen gibt, die islamische Lebensweise zu dämonisieren und einzuschränken. Seien es rechtspopulistische Parteien wie die AfD, schon bekannte Islamhasser oder feministische Organisationen wie Terre de Femmes, die nun versuchen das Tragen von Kopftüchern selbst im allgemeinen öffentlichen Raum massiv einzuschränken.
Die islamische Lebensweise ist es doch, die ein uns eigenes Interesse ist. Deswegen sollte jeder Muslim sich seiner Verantwortung bewusst werden und seine Möglichkeiten nutzen, um klar zumachen, dass wir dieses Spiel nicht mitspielen werden. Jeder Muslim vermag dies in irgendeiner Form zu tun, wie es in der Überlieferung heißt, dass jeder von uns seinen Verantwortungsbereich hat. Es fängt schon bei kleinen aber sehr wichtigen Dingen an, wie dem Teilen eines Beitrags oder dem Sammeln von Unterschriften für eine Petition.
Liebe Geschwister im Islam, betrachten wir den Werdegang der muslimischen Community, dann werden wir sehen, dass es sowohl positive als auch negative Entwicklungen gibt. Als positiv zu bewerten ist natürlich, dass viele Muslime sich ihrer Verantwortung bewusst geworden sind, sich organisieren und an den richtigen Stellen den konstruktiven Konflikt suchen, wenn es um ihre Rechte in diesem Land geht. Allerdings ist all dies, gemessen an unserem eigentlichen Potenzial, noch viel zu wenig. Es liegt auch an uns, die inaktiven Teile unserer Community zu aktivieren. Sie alle müssen ein Bewusstsein darüber bekommen, dass sie eine Verantwortung gegenüber den Muslimen haben. Sie alle sind wichtige Teile, ohne die wir keinen wirksamen öffentlichen Standpunkt vertreten können.
Wir müssen ihnen auf vernünftige Weise klarmachen, dass sie keine Ausreden haben, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Wir dürfen es nicht durchgehen lassen, dass sie sich zurücknehmen, wenn ein Angriff auf die muslimische Lebensweise erfolgt, nur weil es sie persönlich nicht betrifft. Was heute Brüder betrifft, betrifft morgen Schwestern und umgekehrt. Was heute den Verein x betrifft, betrifft morgen den Verein y. Was heute junge Leute betrifft, betrifft morgen die Älteren. Was heute nur für Lehrern und Beamten untersagt ist, kann morgen auch schon für Schüler und Schülerinnen untersagt sein. So müssen wir die Probleme der Muslime, was sie auch sein mögen, als unsere Probleme betrachten, so sagte der Prophet (s.): „Die Gläubigen in ihrer Zuneigung, Barmherzigkeit und ihrem Mitleid zueinander sind einem Körper gleich: Wenn ein Teil davon leidet, reagiert der ganze Körper mit Schlaflosigkeit und Fieber!“ (Muslim)
Wir dürfen auch niemanden die Ausrede durchgehen lassen, dass man es ja „versucht hätte“. Das Einsetzen für den Islam und die Aktivierung der passiven Teile der Community sind ständige Aufgaben. So wie die Propheten bei ihren Völkern nie aufgegeben haben, dürfen wir unsere Umma nicht aufgeben.
Ja noch nicht einmal das Unterlassen der Praktizierung des Islam ist eine Ausrede. Denn auch diejenigen Muslime unter uns, die den Islam nicht praktizieren sind dennoch ein Teil der Community und auch sie tragen eine Verantwortung gegenüber den Muslimen und auch ihnen müssen wir dies klarmachen.
Liebe Geschwister im Islam, zu guter Letzt möchte ich euch dazu animieren, dass ihr aus dieser Umma jede Form von Hoffnungslosigkeit entfernt. Sie ist die Wurzel dieser Inaktivität, die wir erleben. Sie ist der Grund dafür, dass viele Muslime ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Macht jedem hoffnungslosem Geiste klar, dass der Ausgang jeder Angelegenheit von Allah entschieden wird. Macht jedem klar, dass die muslimische Community schon allein in diesem Land über Potenziale verfügt, die noch lange nicht ausgeschöpft sind.
Nutzt all eure Möglichkeiten, um euch für die Angelegenheiten der Muslime einzusetzen und ermüdet nicht dabei. Nutzt die Dynamik guter Freundschaften genauso wie die Dynamik sozialer Netzwerke und die Dynamik eures Umfeldes. Wer aufrichtig um Allahs Willen sich bemüht, wird einen Nutzen für diese Ummah bringen können und es wird ihm an Yawm al Qiyamah eine Freude sein. Denn eine Idee oder ein Argument, das heute in Umlauf gebracht wird, kann, auch wenn es nicht im eigenen Kreise geschieht, morgen schon woanders beeinflussend sein.