Der Fall von al-Quds in die Hände der Kreuzzügler war ein Schock und ein Weckruf für die Muslime. Niemand hätte es zu dieser Zeit für möglich gehalten, dass ein christliches Heer aus Europa so weit in das Gebiet der Muslime eindringen könnte und zudem noch die drittheiligste Stadt erobern würde. Doch genau das ist geschehen. Und wenn man sich die Umstände genauer betrachtet, wird man feststellen, dass dieses Ereignis gar nicht so überraschend ist, wie es für die Muslime zu dieser Zeit erscheinen mochte.

Der Hass der europäischen Christen gegenüber den Muslimen war kein neues Phänomen. Schon die Siege des Propheten (sws) und die der ihm nachgefolgten rechtgeleiteten Kalifen über die Römer erzürnten die Kirche. Sie verloren kontinuierlich an Gebieten und mussten diese den Muslimen überlassen. Nachdem die Muslime Großteile Nordafrikas für sich eröffnen konnten, drangen sie sogar bis ins heutige Spanien und Portugal vor und errichteten dort islamische Herrschaftsgebiete. All dies verärgerte die Christen Europas seit mehreren Jahrhunderten. Allerdings hatten sie den Muslimen meist nicht viel entgegenzusetzen, da sie selbst untereinander zerstritten und uneins waren. Die byzantinische Kirche stand in Feindschaft mit dem katholischen Europa. Und die europäischen Herrscher folgten zwar dem Papst, waren aber oft untereinander in Zwietracht oder rangen gar mit den Geistlichen selbst um Macht. Zudem waren Adel und Lehnsherren jene, die sich mit Wohlstand bereicherten. Das einfache Volk hingegen bestand zumeist aus Leibeigenen und Bauern und befand sich in bitterer Armut.

Die Muslime gerieten ihrerseits in der Zeit der zweiten abbasidischen Epoche allmählich in eine Zeit der Schwäche und der Ignoranz. Zum einen wurde die Schwäche in der Führung deutlich. Die Kalifen verloren ihre Macht Stück für Stück an die Armee, welche dann im Kalifat das Sagen hatten. Zwar war der Kalif noch offiziell das Staatsoberhaupt, wurde aber zumeist nur vom Militär so lange geduldet, wie es ihnen passte. Zudem machten sich in der Bevölkerung allmählich die Auswirkungen der ersten abbasidischen Epoche bemerkbar. In dieser Zeit wurden noch viele Eröffnungen für den Islam getätigt und es verbreitete sich Wohlstand und Wissen. Dies führte jedoch teilweise dazu, dass sich nicht mehr auf die Verbreitung des Islams konzentriert wurde, sondern man sich nach innen richtete und den geernteten Wohlstand genoss. Dadurch kam es jedoch auch schnell zu inneren Konflikten, was sich in der Entstehung verschiedener eigenständiger Emirate zeigte. Zwar folgten viele dieser Emirate offiziell noch dem abbasidischem Kalifat, allerdings verwalteten sie sich ganz eigenständig. Letztlich waren es auch diese Emirate, die teilweise neue Gebiete für den Islam eröffneten oder sich später gegen die Kreuzzügler stellten. Dennoch waren sie größtenteils untereinander um Macht und Gebiet in Konkurrenz und standen nicht vereint zusammen. Ihr Fokus war auf sich selbst oder andere, konkurrierende Emirate gerichtet, wodurch sie mehrheitlich den Blick auf die Eröffnung neuer Gebiete verloren. Der Blick auf den Feind jedoch, also auf die christlichen Europäer, wurde beinahe komplett vernachlässigt.

In dieser Situation schaffte es Papst Urban II. die beiden christlichen Kirchen, die katholische und die orthodoxe, kurzzeitig zu versöhnen. Indem er die Könige Europas zum vereinten – aus seiner Sicht – Befreiungsschlag auf Jerusalem aufrief, schaffte er es ihnen eine gemeinsame Aufgabe zu geben, mit der sie ihre Streitigkeiten kurzfristig beiseite legten und sich geschlossen auf den Weg machten. Zudem half er damit den Byzantinern, die, obwohl sie den europäischen Katholiken nicht trauten, sich über ihre Unterstützung gegen die Muslime freuten. So schaffte er es die Christen für diese Mission zu einen und eine gemeinsame Eroberungsmission auf die heilige Stätte zu starten. Sie konnten al-Quds einnehmen und ihre Herrschaft über dieses Gebiet etablieren. Erst als es einige Muslime – die Familie Zengi und die Ayyubiden – schafften rund um die eroberten Gebiete die Muslime in einem gewissen Rahmen zu einigen, sich militärisch sammelten und ihre Kraft wieder in Richtung des Feindes konzentrierten, konnten sie mit Allahs Erlaubnis al-Quds zurückerobern.

Auch wenn die Zeit der Kreuzzüge fast 1000 Jahre zurückliegt, ist sie heute immer noch im kollektiven Gedächtnis der Welt, sei es der muslimischen oder der westlichen Welt, tief verankert. Die schrecklichen Ereignisse der Eroberung von al-Quds sind den Muslimen wohlbekannt, weshalb ihr Befreier, Salah ad-Din, bis heute in der muslimischen Gemeinschaft hochangesehen wird. Und auch wenn sich der Westen politisch und gesellschaftlich verändert hat und sich nicht mehr auf Europa beschränkt, so hat auch für ihn der Begriff ‚Kreuzzüge‘ immer noch eine weitreichende Bedeutung. Nach dem Verlust von al-Quds wendete sich der Eroberungszug Europas relativ schnell von den zentralen Herrschaftsgebieten der Muslime ab in Richtung Zentralafrika und Amerika, später auch in den fernen Osten Asiens. Sie eroberten diese Regionen nacheinander und errichteten ihre Kolonialreiche. Nur das muslimische Herrschaftsgebiet stellte über die Jahrhunderte eine schier unüberwindbare Hürde dar, weshalb man sich von einer militärischen Aneignung ihres Territoriums zu einer politischen Übernahme entschied. Die Schmach jedenfalls, die Salah ad-Din den christlichen Europäern versetzte, saß tief und so wurde al-Quds zum Sinnbild für die Dominanz der herrschenden Weltmacht – entweder die der Muslime oder die der westlichen Staaten. Aus diesem Grund sprach der britische General Edmund Allenby, als er mit den britischen Truppen al-Quds einnahm, davon, dass „die Kreuzzüge nun vorbei“ seien. In der britischen Presse wurde daraufhin eine Zeichnung publiziert, in welcher der englische König zur Zeit des dritten Kreuzzuges, Richard Löwenherz, von einem Berg herab auf al-Quds blickend sagt: „Mein Traum ist Wirklichkeit geworden“. Eine Anspielung auf seinen Versuch die Stadt einzunehmen, welche jedoch dank Salah ad-Din scheiterte. Das Bild trug den Titel ‚der letzte Kreuzzug‘, was darauf deutet, welche Relevanz und welche Gefühle dieser Begriff nach wie vor in der britischen Bevölkerung auslöste.

Aber nicht nur zu dieser Zeit hatte der Begriff ‚Kreuzzüge‘ eine Relevanz. Auch der amerikanische Präsident George W. Bush nutzte seiner Zeit, im Kontext des angeblichen Kampfs gegen den Terrorismus, diesen Begriff. So sagte er in einer Rede aus dem Jahre 2001: „Dieser Kreuzzug, dieser Krieg gegen den Terrorismus, wird einige Zeit andauern.“ Mit diesen Worten erhielt er die überwiegende Zustimmung vom Volk und der Politik und es begann der verheerende Einmarsch in Afghanistan. Die Amerikaner erhielten dabei die volle Solidarität und Unterstützung der westlichen Staaten. Wer die Wortwahl des amerikanischen Präsidenten nun für ein Fauxpas halten mag, dem soll gesagt sein, dass sein Wahlkampfteam auch 2004 die Bezeichnung des Kampfes gegen den ‚internationalen Terrorismus‘ als einen ‚globalen Kreuzzug‘ darstellte. Seiner Wiederwahl hat diese Begriffswahl jedenfalls nicht geschadet. Und was die Amerikaner unter ‚Kampf gegen den Terror‘ verstehen ist nichts anderes, als die muslimischen Länder davon abzuhalten zusammenzukommen und sich von den Strukturen – seien es die Staatsgebilde oder die wirtschaftlich-politische Ausrichtung – zu befreien, die ihnen von der westlich-kapitalistischen Welt während der gezielten Zerstörung des osmanischen Reiches aufgezwungen wurde. So sagte Bush 2005:

„Die Militanten glauben, dass die Beherrschung eines Landes die muslimischen Massen mobilisiert und dass sie dann alle gemäßigten Regierungen in der Region stürzen und ein radikalislamisches Reich von Spanien bis Indonesien errichten können.“

Mit seiner ‚Kampagne der Freiheit‘ wollte er sich entschieden und mit allen Mitteln gegen dieses Szenario stellen und sagte hierzu: „Wir beugen uns nie, geben nie auf und akzeptieren nie etwas anderes als den vollständigen Sieg.“ Wie sich die amerikanische Regierung die Durchsetzung eines vollständigen Sieges vorstellte, konnten wir die letzten 20 Jahre in Afghanistan, Irak, Syrien und anderen muslimischen Ländern beobachten.

Auch wenn sich der Westen im Konflikt um die Besetzung von Palästina als neutraler Vermittler präsentiert, so haben sie doch eine dunkle Vergangenheit in diesem Gebiet. Der Sieg über die Kreuzzügler durch Salah ad-Din saß so tief im kollektiven Bewusstsein der westlichen Staaten, sodass sie erst als sie al-Quds erneut wieder einnahmen, von einem Ende der Kreuzzüge sprachen. Es ging nie um die Herrschaft über eine einzelne Stadt, sondern um die Dominanz über die Muslime und ihrem Heiligtum insgesamt. So wird jegliches Auflehnen gegen diese kolonialen Strukturen als radikal und extremistisch verunglimpft. Es wird versucht mit allen Mitteln, wie etwa dem inflationären Gebrauch der Antisemitismus-Keule, jegliche Kritik an den verlängerten Arm der westlichen Hegemonial-Politik „Israel“, mundtot zu machen. Als Sinnbild dafür wurde nicht irgendein Wort gewählt, sondern mit reiflicher Überlegung der Begriff ‚Kreuzzug‘ verwendet. Schauen wir aus dieser Perspektive auf den Konflikt werden wir feststellen, dass es für Palästina in dieser Konstellation keine Lösung geben wird. Denn die westlichen Mächte werden alles daran setzen, dass dort keine den Muslimen zugute kommende Regierung entstehen kann. Dies bewerkstelligen sie jedoch nicht allein durch ihre eigene Stärke, sondern gerade durch die Schwäche der muslimischen Länder, die sich dem westlichen System fügen und sich nur um ihre eigenen begrenzten Interessen kümmern, anstatt sich für die Belange der Muslime zusammen zu schließen. Eine Lösung für den Konflikt wird es demnach nur geben, wenn diese Länder sich von den vordiktierten Lösungen des Westens lossagen und sich mit aller Stärke einheitlich und geschlossen für die Befreiung Palästinas einsetzen.

Allah spricht: „Allah verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Allah liebt die Gerechten. Doch Allah verbietet euch, mit denen, die euch des Glaubens wegen bekämpft haben und euch aus euren Häusern vertrieben und (anderen) geholfen haben, euch zu vertreiben, Freundschaft zu schließen. Und wer mit ihnen Freundschaft schließt – das sind die Missetäter. (60:8-9)